Band III

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Das Ansehen:
Empfehlungshandel

Hier in dieser Enzyklopentalogie ist vielfach davon die Rede, dass die Jovianer kein Geld kennen, ja nicht einmal den Tauschhandel, und es stimmt natürlich auch. Zumindest was Waren anbelangt. Man kann sie nicht kaufen, sie sind allesamt gratis.
Allerdings ist da etwas – und es hat den Anschein, als sei es erst in letzter Zeit aufgekommen, in den letzten, sagen wir mal, zweihundert Jupjahren (womit die Anfänge in die Allzeit[1] fallen würden, was nicht ganz unplausibel wäre) –, was der Idee des Geldes schon recht nahe kommt. Wir irdischen Jovisophen nennen das den „Empfehlungshandel“. Der Jovianer hingegen ist sich wahrscheinlich nicht bewusst, dass es sich dabei um einen Handel handelt.
Indirekt kann man es sogar als einen Handel mit dem Ansehen betrachten, nicht zuletzt dem anderer Personen! Denn die Tauschobjekte beziehen ihren „Wert“ aus diesem. Was aber tatsächlich ausgetauscht wird, sind die sogenannten „Empfehlungen“.

Sicher hatte es schon in grauer Vorzeit, bis weit in die Zeit auf der Io[2] zurück, etwas wie Empfehlungen gegeben, und sicherlich waren sie schon immer etwas, dem das Ansehen ihres Ausstellers Gewicht gegeben hat – eine Empfehlung eines Hochangesehenen ist schließlich irgendwie „mehr wert“ als die eines Niedrigangesehenen, ja, Letztere kann geradezu einen negativen Wert haben.
Es ist anzunehmen, dass diese „Empfehlungen“ ursprünglich (als man noch eine Schrift[3] hatte) kurze, auf Iomit[4]Plättchen[5] geschriebene Briefchen, Billettchen waren, etwa des Inhalts „Nehmt Flape[6] freundlich auf, er ist ein guter Mann“ oder „Frau von Finsterfels genießt mein höchstes Ansehen“ o. ä., mit einem Namenszug darunter. Mit solchen Empfehlungen ausgestattet besuchten Reisende vermutlich andere der weit verstreuten kleinen Ortschaften auf dem Heimatmond[7], und sofern der Name des Ausstellers auch nur einem der Ansässigen bekannt war (und bei diesem wiederum ein gewisses Ansehen genoss), war alles Misstrauen dahin, das dem Neuankömmling sonst vielleicht entgegengebracht worden wäre.

Wahrscheinlich wurde damals schon mitunter Schindluder getrieben mit solchen Billettchen, Schurken gab es schließlich schon immer. Sprich: Es waren Fälschungen im Umlauf, die nie und nimmer von dem angeblichen Unterzeichner stammten, so dass man sich mit der Zeit darauf verlegte, nur noch eine Art Siegel auf den Plättchen abzubilden, das Namenszeichen des Herausgeber nämlich, ohne sonstigen Text. Wir können nur darüber spekulieren, welche Faktoren diesen Wandel bewirkten, denn genauer besehen leistete er der Verhinderung von Fälschungen ja keinen Vorschub, im Gegenteil fast. Aber vielleicht ging er einfach mit dem Verlust der Schrift einher, und vielleicht verbreitete sich die Meinung, ein gefälschtes Siegel sei weniger ansehensschädlich für den (angeblichen) Aussteller eines Billetts, lenke keinen Verdacht mehr auf ihn, bösen Leuten gute Empfehlungen ausgestellt zu haben.
Tatsache jedenfalls ist, dass es diese vereinfachte Form von „Empfehlungen“, die heute noch so heißen, schon früh gegeben hat. In der Asservatenstube[8] befindet sich mindestens ein Säckchen solcher Siegelplättchen, die eindeutig noch von der Io stammen, denn sie tragen Spuren der vulkanischen Aktivitäten[9] dort.

Namenszeichen

Diverse Namenszeichen    [G]

Einfache Namenszeichen sind (abgesehen von Ziffern) der kümmerliche Rest dessen, was früher einmal eine allgemeingültige Schrift gewesen sein muss. Auch heute noch hat jeder Jovianer, und zwar von Kindesbeinen an, sein eigenes Namenszeichen. Ob dem noch sowas wie ürsprüngliche Buchstaben zugrunde liegen, ihm also noch mit dem wirklichen Namen der Person zu tun hat, darf getrost bezweifelt werden. Wir kennen das ja auch: Ob eine Unterschrift auch nur im Geringsten so aussieht, wie ein Mensch heißt, ist unerheblich. Umgekehrt fast: Je unleserlicher die Unterschrift, desto wichtiger die Person.

Es ist nicht so, dass diese Plättchen, diese Billetts, diese Empfehlungen, eine gewichtige Rolle spielen in der heutigen jovianischen Welt, aber es gibt sie immerhin noch, ja in letzter Zeit sogar wieder etwas vermehrt, wie gesagt, und es hat ganz den Anschein, als brächten sie den Jovianer an die Schwelle der Entdeckung des Geldes, wenn diese Entwicklung so weitergeht und nicht wieder abebbt.

In Hunderten von Währungen freilich. Denn im Prinzip kann jeder eigene Empfehlungen ausstellen. Die meisten, die allermeisten tun es nicht, sehen keinen Sinn darin. Aber wer es doch tut, kann jederzeit sein „Siegel“, d. h. sein Namenszeichen, in einem Würfelhaus[10] hinterlegen, womit, quasi „notariell“, bestätigt ist, dass Empfehlungen mit diesem Zeichen von dieser Person stammen. Oder jedenfalls stammen müssten. Und gestehen wir es ein: Wird sein Siegel gefälscht, ist dies für den eigentlichen Inhaber gewiss in manchen Fällen sogar schmeichelhaft.

Auch hier kommt wieder das Ansehen ins Spiel. Denn je angesehener jemand ist, desto bekannter ist sein Namenszeichen – unter der Voraussetzung natürlich, dass er es in Umlauf bringt. Auch viele Hochangesehene erachten es als sinnlos und unnötig, Empfehlungsmärkchen gießen zu lassen – für andere hat es durchaus einen willkommenen Zweck. Wenn ein Hochangesehener beispielsweise etwas Besonderes vorhat, wofür er viele Helfer braucht, so ehrt er diese gern (über großzügige Bewirtung hinaus, versteht sich) mit solchen Märkchen. Die Beschenkten zieren sich anfangs noch („Aber das braucht’s doch nicht, Prinemu!“), nehmen das Ding letztlich aber doch, schließlich wollen sie den Schenker nicht dadurch kränken, dass er meinen könnte, man hielte es für „wertlos“.
Und einen Wert hat es! Kaufen kann man nichts dafür (es wäre völlig aberwitzig, damit z. B. einen Gegenstand erwerben zu wollen), aber: Es hat sich inzwischen eingebürgert, dass solche erhaltenen Empfehlungen auch weitergegeben werden können. Dies ist ein beachtenswerter, nicht zu unterschätzender Umstand, ein Wandel, der sich von der Ehrung als solcher in Richtung deren geldwertem Vorteil bewegt. Wie bereits angedeutet: Es steht keineswegs fest, dass dieser Wandel von Dauer ist, aber gegenwärtig ist er nun mal da.

A kann also von B eine Empfehlung annehmen und sie an C weitergeben. Genau dieselbe. Für eine ganz andere Gefälligkeit (und nur Gefälligkeiten können so vergolten werden), die C B erwiesen hat. Das heißt in etwa: „Deine Hilfe war mir genauso viel wert, wie meine Hilfe A wert gewesen ist“. Im Ursprung zumindest. Je öfter so ein Empfehlungsmärkchen den Besitzer wechselt, desto weniger muss die Herkunft direkt auf A zurückzuführen sein. Es kommt nur darauf an, dass dem Empfänger das Namenszeichen bekannt vorkommt und dass er sich entsprechend geehrt fühlt.

Unwichtige Leute, die mit eigenen Empfehlungen daherkommen, können damit, umgekehrt, eine ziemliche Schlappe erleiden. Denkbar z. B., dass jemand jemandem ein Plättchen mit seinem eigenen Namenszeichen (oder dem eines ebenso unwichtigen Bekannten) anbietet, dieser aber sagt: „Was soll ich damit?“. Denn das Namenszeichen darauf sagt ihm nichts, ist ihm unbekannt. Oder aber er denkt sich diese Anmerkung nur, nimmt das Märkchen mit Dankesworten, lässt es dann aber diskret verschwinden, um sich nicht anderswo zu blamieren mit solch wertlosem Plunder.

Wir haben es hier also, wenn man so will, mit dem Anfang von harten und weichen Währungen zu tun, wie wir sagen würden.
Der Jovi freilich sieht das sicherlich ganz anders, ist noch weit davon entfernt, eine Verbindung zu etwas wie „Geld“ zu erkennen; aber eines fernen Tages vielleicht … wer weiß …

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[1] ^ Die Allzeit war eine aus drei ineinandergreifenden Teil-Triebphasen[11] bestehende Epoche, in der sich die Jovianer mit dem Weltall, Erdphantasien und kulturellen Experimenten befassten. Näheres s. Artikel Allzeit in Band IV.

[2] ^ Die Io, oft auch Heimat-, seltener Rumpelmond genannt, ist der innerste der vier größten, sog. Galileischen Monde des Jupiters. Von hier stammen die Jovianer ursprünglich.

[3] ^ Die jovianische Schrift ist ausgestorben (s. Artikel Sprache, Schrift und Sporen in Band III). Zwar kann der Jovianer nach wie vor schreiben, aber kein anderer kann es lesen, und meistens bald auch er selbst nicht mehr. Einzige Ausnahme: die Familienschrift[12].

[4] ^ Jomit (ursprüngl.: Iomit) ist der Universalwerkstoff der Jovianer, aus dem so gut wie alles hergestellt werden kann.
Mehr dazu in Artikel Industrie in Band I.

[5] ^ Ein Platt (Mehrzahl: Plätter, Verkleinerungsform: Plättchen) ist eine dünne Platte aus Halbhartjomit[4] (identisch mit Halbweichjomit).

[6] ^ „Flape“ ist in der Sprache der Jovianer ein Ersatz für eine Figur beliebigen (oder unwichtigen) Namens und wurde hier als Ersatz für einen Namen verwendet

[7] ^ Der Jupitermond Io[2], von dem die Jovianer (damals noch „Iovianer“) stammen, wird gern „Heimatmond“ genannt.

[8] ^ Die Asservatenstube ist eine Sammlung von alten Skizzen, Notizen in Familienschrift[12] und „Antiquitäten“ in der Alten Burg[13], verwaltet von Mitgliedern der Familie von Altburg-Schmausenfeld[14] (s. Seite Die Asservatenstube in Band IV).

[9] ^ Gemeint sind Vulkanausbrüche, durch die die Jovianer von der Io[2] vertrieben wurden.
Näheres s. Artikel Io-Zeit in Band IV.

[10] ^ Ein Würfelhaus ist ein Haus, in dem Würfel[15] aufbewahrt werden, eine Art Bank.
Näheres s. Seite Würfelhäuser in Artikel Joval und Würfel hier in Band III.

[11] Trieb- und Knirschphasen: Die kollektiven Stimmungsschwankungen der Jovianer.
Näheres s. Artikel Trieb- und Knirschphasen in Band II.

[12] Die „Familienschrift“ ist die Schreibschrift derer von Altburg-Schmausenfeld[14], die einzige bekannte Schrift, die noch von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Näheres s. Seite Die Familienschrift in Band IV.

[13] Die „Alte Burg“ ist das Steingebäude auf dem Jupolis-Archipel[arch], das noch von der Io[2] stammt und von Alp von Altburg[17] auf der Labsalinsel[18] neu aufgebaut wurde.
Näheres s. Seite Alte Burg in Artikel Labsalinsel in Band I.

[14] Familie von Altburg-Schmausenfeld: Die auf Alp von Altburg[17] und Hedi von Schmausenfeld[19] zurückgehende Familie, wohnhaft in der Alten Burg[13].

[15] Würfel – egal aus welchem Material – gelten bei den Jovianern als Wertgegenstände.
Näheres s. Seite Der Würfel in Artikel Joval und Würfel hier in Band III.

[16] Der Jupolis-Archipel ist die Inselgruppe, innerhalb der sich die Stadt Jupolis befindet. Er ist das Thema von Band I.

[17] Alp von Altburg, genannt Kapitän Alp: Leiter der Umsiedlung der Jovianer von der Io[2] auf den Jupiter (s. Artikel Artikel Der Große Umzug in Band IV), Begründer der Asservatenstube[8]

[18] Die Labsalinsel ist die Insel im Südost/GW[20] des Jupolis-Archipels[16].
Näheres s. Artikel Labsalinsel in Band I.

[19] Hedi von Schmausenfeld, zuvor von Schmauchenfels, zuvor von Fadland: zunächst Rosmars[21] Frau (s. Artikel Stadtchefzeit in Band IV), später Alps[17].

[20] GW = Gegenwesten (s. Artikel Die sechs Himmelsrichtungen hier in Band III).

[21] Rosmar von Schmauchenfels: Erster und einziger Stadtchef von Jupolis (s. Artikel Stadtchefzeit in Band IV), damals noch Lebenspartner von Hedi[19].

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