Band III

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Das Ansehen
Mit dem Ansehen haben es die Jovianer ganz wichtig.
Und es gibt jovianische Ehrgeizlinge, die alles daran setzen, ihr Ansehen in der Gesellschaft zu mehren. Emporkömmlinge würden wir sie nennen. Sie sind aber selten. Der Durchschnittsjovianer beschränkt sich darauf, einmal gewonnenes Ansehen nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
Das Ansehen ist gewissermaßen das Vermögen eines Jovianers. Er kann sich nichts kaufen dafür, da es ja sowieso nichts zu kaufen gibt. Aber: Das Ansehen verschafft Einfluss und Vorrang.

Stellen wir uns einmal vor, an einer Stelle, an der etwas Köstliches ausgegeben würde, würde sich eine Schlange bilden. Wäre es eine Menschenschlange, würde jeder darin genau darauf achten, dass sich niemand vordrängelt und dass sich jeder, der später hinzukommt, gefälligst hinten anstellt. Es gilt hier also das Vorrecht des Frühergekommenen.
Ganz anders bei den Jovianern. Eine Jovianerschlange wäre ständig in Bewegung. Dauernd würde jemand vor sich jemandem Platz machen, jemanden vor sich einreihen lassen – weil der andere höheres Ansehen genießt als man das eigene einschätzt. Leute mit höchstem Ansehen würden so (und zwar von den Leuten in der Schlange selbst) nach vorne durchgewunken. Und sie gingen wirklich an der Schlange vorbei nach vorn, bis sie darin jemanden stehen sähen, den sie unmöglich überholen könnten: jemanden mit noch höherem Ansehen.

Natürlich sind sich da nicht immer alle einig, und es kommt zu Diskussionen, wer nun den Platz weiter vorn und wer den dahinter einnehmen sollte. Aber es wird nicht um den vorderen Platz verhandelt, sondern den hinteren. Etwa so: „Nein, bitte, Prinemu[1], Ihnen steht der vordere Platz zu, bitte gestatten Sie, dass ich mich mit dem hinteren begnüge.“
Das ist nicht ausschließlich Bescheidenheit. Da spielt auch ein gutes Stück Kalkül mit rein. Denn sich zu weit vorn einzureihen, schadet dem eigenen Ansehen. Logisch, denn wer sich für etwas Besseres hält, als er ist, wird nicht gerade dafür bewundert.

Schlangestehen

Jovianerverhalten beim Schlangestehen    [G]

Es bräuchte niemanden, der die richtige Einreihung überwacht. Denn im Beispiel mit der Jovianerschlange würden da, wo die Köstlichkeit ausgegeben wird, auch die Ausgebenden nochmal beurteilen, ob die Reihenfolge ihrer Meinung nach stimmt. Und jemanden, der ihrer Meinung nach zu weit hinten steht, würden sie nach vorn winken. Jemanden, der zu weit vorn steht würden sie hingegen bitten, sich seitlich einen Moment zu gedulden. Womit sie allerdings auch ihr eigenes Ansehen in die Waagschale würfen: Denn nicht jeder kann jeden kennen in Jupolis, und jemanden mit vermeintlich höherem Ansehen vor jemandem mit tatsächlich höherem Ansehen zu bedienen, ist blamabel, also wiederum dem eigenen Ansehen abträglich („Der weiß nicht mal, dass Frau X angesehener ist als Herr Y!“). Deshalb wäre eine solche Ausgabestelle immer mit mehreren Leuten besetzt, die einander Zeichen geben können, wer von den Nächsten zu bevorzugen ist. Vor allem aber könnten sie mehrere Schlangensteher gleichzeitig abfertigen, so dass kleinere Verschiebungen nicht auffallen.

Das Schlangestehen ist freilich recht selten in Jupolis und war jetzt wirklich mehr ein Gleichnis. Im Alltag sind es andere Kleinigkeiten, bei denen sich das Ansehen bemerkbar macht. Wird etwa bei der Batzen[2]-Versorgung eine Zutat knapp, ist die Wahrscheinlichkeit, sie noch zu bekommen, nach Ansehen unterschiedlich. Hat man ein Kleidungsstück gerade im Guss[3] und es kommt jemand mit höherem Ansehen daher, bekommt dieser zuerst das Stück und man selbst erst das nächste. Und auf dem alten Flugplatz[4] werden die nordöst/GWlichsten[5] Stellen für höchst angesehene Jupolitaner[6] freigehalten, damit diese ein paar Schritte weniger gehen müssen zu den Blumenzuchtfeldern[7].

Ein nicht unerheblicher Aspekt ist das Ansehen natürlich auch bei der Partnerwahl. Wenn nicht sogar einer der wichtigsten. Denn selbstverständlich kriegen die angeseheneren Männer die besseren Frauen und die angeseheneren Frauen die besseren Männer. Wobei uns keine Wertung zusteht, was „die besseren“ sind. Und die besseren kriegen sie ja vielleicht doch nicht, aber zumindest haben die Angeseheren die größere Auswahl. Einen „Vorrang“ in gewissem Sinne also auch hierbei.

Und schließlich und endlich hat das Wort der Hochangesehenen mehr Gewicht, wenn es darum geht, etwas zu entscheiden. Woraus ihnen aber keine Führungsrolle erwächst! Eine solche würden sie auch gar nicht annehmen. Würde sich jemand einbilden, er könne aufgrund seines Ansehens andere belehren, ginge es mit selbigem schon wieder bergab.

Man darf aber bei alledem nicht übersehen, dass das Ansehen der meisten Jovianer ungefähr auf gleichem Stand ist. Wobei es von Kaff zu Kaff[8] wechseln kann, sprich: Man kann in seinem eigenen Kaff ein gewisses Ansehen genießen, das im Nachbarkaff nicht gilt, weil dort niemand davon weiß.

Was kein Ansehen verschafft, ist das Lebensalter. Zwar haben junge Leute meist schon von Haus aus weniger Ansehen, weil sie noch zu wenig Gelegenheit hatten, welches zu erwerben. Denn „erblich“ bzw. „übertragbar“ ist es nicht, d. h. es wird niemandem Ansehen zuteil, nur weil er oder sie von einer angesehenen Person abstammt oder mit einer solchen familiert[9] ist. So jedenfalls ist es gemeint und sollte es sein. In der Praxis freilich gibt es immer wieder Abweichungen von diesem Prinzip. Aber dass fortgeschrittenes Alter allein zu Ansehen führe, ist nicht zu beobachten.

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[1] ^ „Prinemu“ ist eine ehrerbietige jovianische Anrede (s. Seite Anrede in Artikel Sitten und Benehmen hier in Band III).

[2] ^ Batzen sind die Hauptspeise der Jovianer; s. Artikel Lebensmittelversorgung in Band I sowie Ernährung in Band II.

[3] ^ Jovianische Kleidungsstücke werden – wie alles aus Jomit[10] – nicht genäht, nicht gestrickt, nicht geschustert, sondern gegossen.

[4] ^ s. Seite Flugplatz in Artikel Grünberginsel in Band I.

[5] ^ GWlich = gegenwestlich (s. Artikel Die sechs Himmelsrichtungen hier in Band III).

[6] ^ Jupolitaner = Bewohner von Jupolis

[7] ^ Zu den jovianischen Blumenzuchtfeldern s. Seite Blumenzuchtfelder in Artikel „Grünberginsel“ in Band I.

[8] ^ Als Käffer (Einzahl: Kaff) bezeichnet man die Stadtteile von Jupolis.

[9] ^ Jovianer heiraten nicht, sondern „familieren sich“, was in etwa unserer Verlobung entspricht.
Näheres s. Seite Familierung in Artikel Sitten und Benehmen hier in Band III.

[10] Jomit (ursprüngl.: Iomit) ist der Universalwerkstoff der Jovianer, aus dem so gut wie alles hergestellt werden kann.
Mehr dazu in Artikel Industrie in Band I.