Band III

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Das Ansehen:
Morgenbesuche

Ein ungeheuer hartnäckiges Phasenrelikt[1] ist die Gepflogenheit der Morgenbesuche unter Hochangesehenen. Sie geht auf die Stadtchefzeit (s. Artikel dieses Namens in Band IV) zurück, wiewohl sich sicherlich die Wenigsten dieser Ursprünge bewusst sind, sonst wären die Morgenbesuche längst schamhaft abgeschafft worden.

Morgenempfang

Ein Morgenempfang    [G]

Ein gewisser Kreis von Jovianern ab einem gewissen (gefühlten) Ansehen pflegt sich wöchentlich gegenseitig zu besuchen. Das ist ein merkwürdiger Vorgang, bei dem sozusagen berühmte Personen mit Blumensträußchen in der Hand zu noch berühmteren Personen pilgern, um Letzteren ihre Aufwartung zu machen. Was das Ansehen der berühmteren Person natürlich bekräftigt, wenn nicht steigert. Aber auch die Besucher zehren davon, denn obwohl sie sich eigentlich selbst einladen, fühlen sie sich doch wie Geladene und werden von anderen wohl auch dafür bewundert.
Es ist zu betonen, dass sich die meisten Höchstangesehenen an diesem Brauch nicht beteiligen. Man mag deshalb denen, die solche Morgenbesuche praktizieren, ein bisschen den Status von Emporkömmlingen unterstellen, aber eine abschließende Beurteilung steht uns nicht zu, dafür können wir nicht jovianisch genug denken und fühlen. Aber es ist nicht zu übersehen, dass sich die „Frühblümler“, wie sie leicht spöttisch genannt werden, als eine Art Elite empfinden. Und hätten wir es nicht mit Jovianern, sondern mit Menschen zu tun, wäre die Mutmaßung sicher nicht verkehrt, dass sie sich eines Tages anschicken würden, ihre als besondere empfundene Stellung in Macht umzumünzen.
Dieser Fall aber ist nun über 500 Jupjahre[2] lang offenbar nicht eingetreten, und so wird es wahrscheinlich auch in Zukunft bleiben.

Die Frühblümler gefallen sich einfach in ihrem Gefühl, etwas Gehobenes zu sein, wie es scheint.
Dabei wirkt ihr Ritual auf uns (und ziemlich sicher auch für den kleinen Jovi von der Straße) etwas albern. Denn es gibt da ein Gerenne von Gastgeber zu Gastgeber, und so mancher verliert den Überblick, in wessen Haus er als nächstes erscheinen soll oder ob dessen Bewohner auf dem Morgenempfang des nächst höher Angesehenen vorzufinden sein würde … Vor allem aber müssen die Besucher ihre mitgebrachten Gastblümchen am Ende selbst verzehren[3], da die Gastgeber ja gar nicht so viele verspeisen könnten wie sie Besucher haben.

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden anlässlich solcher Morgenbesuche heutzutage auch kleine „Geschäfte“ mit Empfehlungen abgewickelt (s. vorausgegangenen Abschnitt „Empfehlungshandel“), aber so umfassend ist unser Einblick nicht, dass wir dies mit Sicherheit sagen könnten.

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[1] ^ Als Phasenrelikte werden Gegenstände und Verhaltensformen bezeichnet, die nach Abklingen der Triebphase[4], in der sie aufkamen, in Gebrauch bleiben.
Näheres s. Seite Phasenrelikte in Artikel Trieb- und Knirschphasen in Band II.

[2] ^ Jupjahr nennen wir das Jahr nach jovianischer Zeitrechnung. Ein Jupjahr entspricht dem Zeitraum nach 41,3 Erdentagen. Näheres s. Artikel Zeit- und andere Rechnungen hier in Band III.

[3] ^ Jovianische Blumen werden verzehrt.

[4] Trieb- und Knirschphasen: Die kollektiven Stimmungsschwankungen der Jovianer.
Näheres s. Artikel Trieb- und Knirschphasen in Band II.