Ozean und Meer | DIE INSELN |
Weiße Wolkenwand
Der Jupolis-Archipel liegt in einem durch die Weiße Wolkenwand, gern abgekürzt als „WWW“, rundum geschützten Bereich.
Die Weiße Wolkenwand ist eine runde Wolkenformation, einige Kiloliter[2] außerhalb des Archipels, die diesen vor dem turbulenten Wettergeschehen darum herum abschirmt. Sie ist von Jupolis aus in allen Himmelsrichtungen zu sehen und sieht überall in etwa gleich aus. Und solange dies so ist, ist alles gut. Kritisch wird’s nur, wenn sich daran etwas ändert.
Der Archipel liegt nämlich mitten im Auge eines beständigen Wirbelsturms (keine Seltenheit auf dem Jupiter), der über die Jahre, Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte seine Form und Lage nur geringfügig ändert (ebenfalls keine Seltenheit hier), und die WWW ist dieses Auges unterer sichtbarer Rand. Und innerhalb eines Sturmauges ist das Klima optimal und friedlich.
Aber wehe, die WWW rückt auf einer Seite, egal welcher, näher und entfernt sich gleichzeitig auf der gegenüberliegenden – dann drohen dem Archipel gewaltige Unwetter, bis hin zu einer ernsthaften Gefährdung, ja sogar Vernichtung der Stadt und ihrer Einwohner!
Aber man weiß gar nicht wirklich, ob das überhaupt passieren kann. Mag sein, dass die WWW irgendwann irgendwo mal etwas näher gekommen ist, aber dann höchstens geringfügig bisher nie auch nur im Entferntesten bis an den Archipel heran.
Es gibt Stimmen, die fordern für den – dennoch im Prinzip natürlich annehmbaren! – Ernstfall eine Wiederaufnahme des Baus von Grumzügen. So wurde das Fliegzeug[3] genannt, mit dem die Jovianer beim Großen Umzug[4] hier angekommen waren. Mit neuen Grumzügen (natürlich in einer modernen Variante), sagen die Mahner, könnten die Jovianer im Notfall evakuiert werden und innerhalb der WWW so lange navigieren, bis diese wieder auf ihre angestammte Position zurückgekehrt sei.
Technisch wäre das möglicherweise machbar, nur müssten angesichts der inzwischen auf ein Mehrfaches ihrer ursprünglichen Größe angewachsenen Stadt hunderte von Grumzügen gebaut und um Jupolis herum geparkt werden – für einen Fall, der vielleicht nie eintritt! Da wäre es doch viel klüger, sagen andere, man versetze im Alarmfall einfach die Häuser vorübergehend an die Stelle des Offenen Ozeans, zu der sich das Auge des Sturms hinbewegt. Auch das klingt umsetzbar – schließlich verfügen die Häuser[5] (wenn auch mittlerweile nicht mehr alle) über sogenannte Umzugsdüsen[6], die sie flugfähig machen. Oder machen sollten, denn längst weiß leider keiner mehr, wie man diese eigentlich bedient. Und überhaupt – wer weiß schon, ob sich die Wolkenwand jemals wieder auf ihren alten Platz zurückbewegen würde? Oder stattdessen ganz woanders hin?
Immer wenn eine solche Diskussion aufflammt (und sie flammt keineswegs nur dann auf, wenn man an der Weißen Wolkenwand eine Veränderung festzustellen glaubt, sondern fast jedesmal, wenn die Jovianer wieder einmal in eine Knirschphase[7], läuft es darauf hinaus, dass die Bovianer[8] gar nicht so dumm seien, wie vielfach angenommen. Die Bovianer sind ein zwar in unmittelbarer Nachbarschaft der Stadt lebendes, aber so gut wie unbekanntes Volk, das in den Grünen Bergen[9] in Höhlen haust und wenig von sich blicken lässt. „Deren Höhlen“, sagt also jemand, „bieten fast perfekten Schutz vor Unwettern, und einem ganzen Gebirge wie den Grünen Bergen wird nicht einmal eine WWW-Abwanderung viel anhaben können.“ Es sei eine Überlegung wert, die Bovianer aus ihren Höhlen zu vertreiben und … – aber da jaulen die Zuhörer auf, und jeder hofft insgeheim, dass sich dieser Vorschlag nicht eines Tages als Jovimanie[10] ausbreiten wird. Denn „die Bovianer vertreiben“ – wer kann schon wissen, womit man es da zu tun bekommen würde. Das wäre ja Krieg – etwas, wovon die Jovianer keinerlei Ahnung haben, geschweige denn Erfahrung damit. Aber instinktiv wissen sie, dass ein solches Ansinnen ganz gewaltig nach hinten losgehen könnte.
Also übt man sich in Optimismus, dass ja vielleicht auch gar nichts passieren wird und man weiterhin zufrieden damit sein darf, dass die Häuser so schön ruhig und schwankungsfrei im Stadtmeer[11] schwimmen – wie jetzt immerhin schon seit über 500 Jahren. Jupjahren[12] freilich. Und das tun sie nicht zuletzt wegen der Stromschlucker[13], die die Ränder des Archipels säumen, wo zwischen den Inseln Lücken bestehen. Die Stromschlucker nämlich gleichen die Druckschwankungen zwischen Dunklem Meer und Stadtmeer aus und dienen zugleich als eine Art Gezeitenkraftwerk. Schon die Gründer der Stadt Jupolis hatten die heimischen Magmakraftwerke umerfunden. Damals gab es noch richtig geniale Leute. Überhaupt sind die Jovis mitunter ganz schön schlau, wenn’s wirklich drauf ankommt.
Immer wieder mal taucht in einer Erzählung irgendein sonderbares Wettergeschehen auf. Von rötlichem Nebel ist da die Rede, von Staubflockenflug, von Blitzen draußen in der WWW oder von verblüffenden Druckunterschiedsphänomenen. Das meiste davon findet allerdings nirgendwo sonst mehr Erwähnung, so dass sich der Verdacht aufdrängt, dass vieles davon aufgebauscht, wenn nicht sogar frei erfunden ist.
Jahreszeiten jedenfalls gibt es hier keine. Dazu nämlich liegt der Jupiter viel zu eben auf seiner Bahn.
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[1] ^ s. Artikel Die sechs Himmelsrichtungen in Band III.
[2] ^ 1 Kiloliter = 1000 Liter. Zum Liter s. Das Liter in Artikel Zeit- und andere Rechnungen in Band III.
[3] ^ „Fliegzeug“ steht zusammenfassend für alle jovianischen Fluggeräte.
Näheres s. Artikel Fliegzeug in Band III.
[4] ^ Als „Großer Umzug“ wird die Umsiedlung der Jovianer von der Io[14] auf den Jupiter bezeichnet.
Näheres s. Artikel Der Große Umzug in Band IV.
[5] ^ s. Artikel Das jupolitanische Haus in Kapitel Die Stadt Jupolis hier in Band I.
[6] ^ Die meisten Häuser von Jupolis haben an ihrer Unterseite sog. Umzugsdüsen, mit denen man sie – theoretisch – fliegend an einen anderen Platz versetzen könnte.
Näheres hierzu s. Umzugsdüsen in Artikel Das jupolitanische Haus hier Band I.
[7] ^ Trieb- und Knirschphasen: Die kollektiven Stimmungsschwankungen der Jovianer.
Näheres s. Artikel Trieb- und Knirschphasen in Band II.
[8] ^ Bovianer: Die fremden „Mitbewohner“ der Jovianer auf dem Jupolis-Archipel[15], ansässig in den Grünen Bergen[9]. Näheres s. Artikel Bovianer in Kapitel Andere Lebewesen in Band II.
[9] ^ Grüne Berge: Das Gebirge auf der Grünberginsel[16], Lebensraum der Bovianer[8].
Näheres s. Artikel Grünberginsel hier in Band I.
[10] ^ Die Auswirkungen einer ausgeprägten Triebphase[7] nennt man „Jovimanie“.
[11] ^ Als Stadtmeer wird der Teil des Dunklen Meers[17] bezeichnet, in dem Jupolis liegt (bzw. schwimmt).
[12] ^ Jupjahr nennen wir das Jahr nach jovianischer Zeitrechnung. Ein Jupjahr entspricht dem Zeitraum nach 41,3 Erdentagen. Näheres s. Artikel Zeit- und andere Rechnungen in Band III.
[13] ^ Zu den sog. Stromschluckern s. Artikel Energieversorgung hier in Band I.
[14] Die Io, oft auch Heimat-, seltener Rumpelmond genannt, ist der innerste der vier größten, sog. Galileischen Monde des Jupiters. Von hier stammen die Jovianer ursprünglich.
[15] Der Jupolis-Archipel ist die Inselgruppe im Offenen Ozean[18], innerhalb der sich die Stadt Jupolis befindet. Er ist das Thema dieses gesamten Bandes. Eine Karte des Archipels findet sich ganz am Anfang.
[16] Grünberginsel: Die Großinsel im Norden des Jupolis-Archipels[15].
Näheres s. Artikel Grünberginsel hier in Band I.
[17] Das Dunkle Meer ist der gesamte Grundlikör[19] innerhalb der Inseln des Jupolis-Archipels[15]; ein Teil davon wird als Stadtmeer[11] bezeichnet.
[18] Der Offene Ozean ist der die Inseln des Jupolis-Archipels[15] weiträumig umgebende Grundlikör[19].
[19] „Grundlikör“ wird die Grundflüssigkeit inner- und außerhalb des Jupolis-Archipels[15] genannt, also des Offenen Ozeans[18] und des Dunklen Meers[17] einschließlich des Stadtmeers[11].