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ROLLERSAGEN DER ROMANTIK:
Der falsche Würfel
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Engif betrachtete es als seine wichtigste Aufgabe während seiner Reise, sich selbst am Vergessen zu hindern, welches der richtige Würfel war und welches der falsche. Er würde die Wirkung schließlich nicht an sich selbst ausprobieren können, denn man kann sich ja schlecht selber etwas ins Ohr sagen. So übte er sich täglich im Unterscheiden der Würfel, bis er irgendwann auch dies für sinnlos hielt und tatsächlich vergaß, ob der schwerere der mit der Wirkung war oder der leichtere. Aber Engif war ein Roller mit Charakter und bestrebt, seine Mission trotzdem durchzuführen. Er vertraute darauf, sich im entscheidenden Moment zu helfen zu wissen. Auch wuchs sein Groll über die Schlechtigkeit des Rukuk von Schimpfburg an jedem der 224 Tage an, die er, was uns nicht verwundert, für seine Reise brauchte (erstaunlicherweise unabhängig davon, ob er – je nach Version – im Land Bo noch mit irgendwelchen Mutproben usw. beschäftigt war oder nicht).

Im Lärmland angekommen, erregte Engif allein durch seine Reisefähigkeit Aufsehen. Einige der herumhängenden Rollerkollegen kannten ihn, andere pöbelten ihn an. Doch Engif ließ sich nicht beirren. Er wolle sofort zu Rukuk vorgelassen werden, verlangte er, denn er bringe eine wichtige Botschaft von Von[1] Wolkenburg, dem Vater der Geisel.
„Von welcher Geisel faselt Ihr?“, fragte ein mürrischer Lärmlandbewohner. „Das möchte ich auch gerne wissen“, ein anderer. „Was soll das sein, eine Geisel?“, ein dritter.
„Ich spreche von Fräulein von Wolkenburg, die hier gefangengehalten wird!“, sagte Engif. „Und ich bringe den Lösewürfel.“
„Den was?“
„Den Zauberwürfel des Von Wolkenburg, den Von Schimpfburg für die Freilassung der gefangenen jungen Dame fordert.“
Viele der Umstehenden sahen einander verstört an, denn von dieser Forderung hörten sie zum ersten Mal, sowohl die meisten der damals auf dem „Fest“ dabeigewesenen zweifelhaften Gestalten als auch die kampierenden Fremden.

Engif an Schimpfburg

Engif begehrt Einlass in die Schimpfburg    [G]

Rukuk entdeckte die Szenerie von einem Burgfenster aus, pfiff und winkte Engif energisch heran. „Kommt und tretet ein“, rief er ihm zu, „und sorgt nicht für unnötiges Geschwätz da draußen!“
Engif aber, erstaunt von der augenscheinlichen Ahnungslosigkeit auch der finsteren Lärmlandbewohner (da doch einer der ihren die erpresserische Forderung überbracht hatte), blieb stehen, pfiff zurück und rief, betont mitteilsam, so laut er konnte: „Ich pfeife Euch was[2], Rukuk von Schimpfburg, mein Name ist Engif von Schwefelquell, und ich bin hier, Euch den Zauberwürfel zu behändigen, den Ihr als Faustpfand für die Freilassung von Fräulein von Wolkenburg erheischt!“ So wuchs die Anzahl der Verwunderten noch deutlich an.
„So kommt endlich herein, verdammt!“, schrie Rukuk.
Und während das mürrische Gemurmel anschwoll und sich immer mehr über die Würfelforderung empörten, einige der ehemaligen „Festgäste“ hingegen noch versuchten, einen Zusammenhang zwischen der Gefangennahme der Jupiterleugnerin und der Würfelforderung zu erkennen und andere zu beschwichtigen, betrat Engif die Schimpfburg, in der Bine in der Kuppelkammer in Geiselhaft schmachtete.
In den meisten Fassungen der Legende hatten sich Bine und Engif schon erblickt, als er noch draußen stand, und wem das Herz dabei im Leibe hüpfte, variiert von Version zu Version; in so mancher davon dauert es noch eine ganze Weile, bis er die Burg betreten kann, weil da vorher noch ein paar Gefühlswallungen zu beschreiben sind.

„Wo ist Flape?“, fragte Rukuk.
Wobei „Flape“ kein richtiger Name ist. Der Jovi ist es gewohnt, dass Flape immer für eine Figur steht, deren Name ohne Belang für die Handlung ist, dem (also dem Namen) keine weitere Beachtung beigemessen zu werden braucht. Das ist ganz praktisch, denn dann weiß man von vornherein: Figur Flape, Name unwichtig, muss man sich nicht merken. Es gibt Geschichten, in denen wimmelt es geradezu von Flapes, etwa so: „Ich?“, fragte Flape. „Du?“, fragte Flape zurück. „Er doch nicht“, sagte Flape. „Doch, genau er!“, rief ihnen Flape von hinten zu … und bedeutet nichts anderes als das, was wir mit „der eine“, „der andere“, „wieder ein anderer“ und „ein weiterer“ umschreiben würden.

„Wer ist Flape?“, fragte Engif zurück.
„Der Herold, den ich entsandte, den Würfel abzuholen.“
„Ach, dieser“, sagte Engif. „Er ist wohlauf, er hat sich nur dazu entschlossen, im Phantänzerland zu überknirschen[3].“
Als er merkte, wie Rukuk innerlich zu toben anfing, fügte er hinzu: „Natürlich erst, nachdem er erfahren hatte, dass ich die Überbringung des Würfels übernehme.“
„Ah“, sagte Rukuk und beruhigte sich wieder etwas.
„Und ich wurde entsandt“, fuhr Engif fort, „um vor der Aushändigung des geforderten Objektes die Anwesenheit und Unversehrtheit der Geisel zu überprüfen. Denn dies ist unumgänglich, wie Ihr verstehen werdet, und wird bei allen Geiselnahmen so gehandhabt.“

Hier stutzen wir ebenso wie Rukuk gestutzt haben muss: „bei allen Geiselnahmen so gehandhabt“ – wie bitte? Also war dergleichen wohl doch an der Tagesordnung?
Wohl kaum. Dennoch heißt es genau so im Text, und nicht nur in einer Variante.
Wenn es nicht ein Scherz eines Nacherzählers ist, der dann verschiedene Male kopiert wurde, ist dieser Einschub wohl so zu verstehen, dass Engif damit Rukuk entweder verunsichern wollte – oder ihn, im Gegenteil, in Sicherheit wiegen. Im einen Fall nämlich sollte Rukuk das Gefühl bekommen, er habe es mit einem Profi-Unterhändler zu tun, mit allen Wassern gewaschen, für den sein vermeintlicher Geniestreich nur Pipifax war, Routine. Im andern Fall sollte Rukuk sich einbilden, eine Erpressung sei etwas, was normalerweise einfach damit beendet werde, dass anstandslos die Forderung erfüllt werde, sofern das zurückbehaltene Pfand in der Zwischenzeit nicht verschwunden oder kaputtgegangen war.
Wie auch immer – für den Jovianer der Romantik mag dieser Nebensatz in der Aussage Engifs sogar völlig logisch und/oder folgerichtig gewesen sein und überhaupt nicht des Nachdenkens würdig. Für uns jedoch ist es einer der schwerstverständlichen Sätze in der jovianischen „Literatur“.

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[1] ^ Männer nennen Männer nicht „Herr XY“ und Frauen Frauen nicht „Frau XY“ (vgl. Anrede in Artikel Sitten und Benehmen in Band III), was bei den häufigen „von“-Namen mitunter zu Schwierigkeiten beim Lesen führt, weshalb wir das zum Namen gehörige „von“ in diesen Fällen groß schreiben.

[2] ^ „Ich pfeif dir/Ihnen was!“ oder kurz „Pfeife!“: Parallel zum tatsächlichen Pfiff[4] eine übliche jovianische Grußformel.
Vgl. Grußformen in Artikel Sitten und Benehmen des Kapitels Jovianer in Band III.

[3] ^ Zur Erinnerung (oder falls anfangs überlesen): „Überknirschen“ ist das Abwarten des Endes einer Knirschphase[6] an einem festen Standort.

[4] Der Pfiff mit den Nasenlöchern[5] ist der übliche Gruß unter Jovianern; vgl. Grußformen in Artikel Sitten und Benehmen des Kapitels Jovianer in Band III.

[5] Obwohl der Jovianer keine Nase hat, sondern nur eine Schnauze, heißen seine Nasenlöcher tatsächlich Nasenlöcher (s. Artikel Körper in Band II).

[6] Trieb- und Knirschphasen: Die kollektiven Stimmungsschwankungen der Jovianer.
Näheres s. Artikel Trieb- und Knirschphasen in Band II.