Band V

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ERDPHANTASIEN DER ALLZEIT: Das Neue Zentrum:
Aktstudio

Aktstudio

Das Aktstudio    [G]

Das rote Aktstudio war das Haus des Talents der „Vorstellung“. Unter „Vorstellung“ ist sowohl etwas wie „Aufführung“ zu verstehen als auch etwas wie „Bild im Bewusstsein“. Und das „Akt“ im Wort „Aktstudio“ will wie ein Aufzug im Drama verstanden werden, aber auch als Handlung.
In diesem Haus wurde Theater gespielt und getanzt. Stücke und Figuren sind nicht überliefert, aber es gilt als gesichert, dass vor allem Pantomimenspiel, Kitzelspiele und, in Form einer Art Spieloper, Bovianer- und Rollerstücke aufgeführt wurden und die Darsteller körperbemalt auftraten.

Dass es ein besonderes Merkmal der Erdvianer war, sich zu bemalen, ist ja bekannt. Außerdem sollen sie einander gegenübergetreten sein, einzeln oder in kleinen Gruppen, und sich temperamentvoll gestikulierend Geschichten erzählt haben, die niemand je erlebt hat. Die Parallelen sind offensichtlich: Mit den erfundenen Geschichten nahmen die Jovis ihre eigenen Rollersagen[1] auf die Schippe, deren Blütezeit zwar schon lange vorbei war, von denen aber immer noch Sporen in Umlauf waren (sogar bis heute noch sind), die aber zur Allzeit längst als peinlich galten. Wir kennen das auch: Es gibt Filme, die in einer bestimmten Zeit die Zuschauer zu Tränen gerührt haben, später aber nur noch lächerlich wirken. Und so war es auch mit den Rollersagen.

Rollerspiele, wie sie im Aktstudio zur Aufführung kamen, zogen also wahrscheinlich die geistige Nahrung der Romantik[2] ins Lächerliche – sicherlich stellten sie aber auch einen Bezug zu den rollenden Behausungen der Mittelerdvianer her; man könnte sich vorstellen, es wurde da zur Verblüffung einer aufkreischenden Zuschauerschaft ein viereckiger Wagen auf der Bühne herumgezogen, auf dem die Darsteller, womöglich mühsam den Handstand übend, irgendwelchen antiquiert klingenden Kokolores von sich gaben.

Die Bühne, das war eine runde, etwas erhöhte Plattform in der Mitte des Saals, die sich ständig langsam drehte, und um die herum die Zuschauer saßen.
Eine Illustration zu einer solchen Vorstellung ist im Abschnitt „Theater“ des Artikels „Kunst und Kultur“ in Band III zu finden.
Zur Bühne führte eine Rampe, über die die Darsteller hereintraten. Bühne und Rampe bestehen immer noch, die Bühne dreht sich sogar noch, unablässig, denn es wurde, ebenso wie beim Kommel[3], keine Notwendigkeit darin gesehen, die Funktion abschaltbar zu machen.

Da die Zuschauer durch die Bühnendrehung die Vorstellung mehrmals von allen Seiten zu sehen bekamen, haben die Akteure wohl kaum in eine bestimmte Richtung gespielt, sondern in alle Richtungen, und entsprechend werden die Stücke angelegt gewesen sein – oder auch gar nicht angelegt, sondern jedesmal frei improvisiert. Aus zuverlässiger Quelle wissen wir aber, dass es auch Rollensporen gab, und diese haben nun ausnahmsweise nichts mit Rollern oder Rädern zu tun, sondern enthielten Texte für Sprechrollen in einer Aufführung. Ob das funktioniert hat, wissen wir nicht. Also ob die Darsteller nach dem Verzehr ihrer Sprechtexte diese dann korrekt zum Vortrag gebracht haben. Wahrscheinlich eher nicht, und wahrscheinlich kam genau deshalb das Pantomimenspiel so sehr in Mode.
Dieses dürfen wir uns so vorstellen, dass einige bemalte (und evtl. spärlich bekleidete) Jovis, vielleicht drei bis fünf an der Zahl, kreisförmig auf der Drehbühne aufgestellt waren und Grimassen und Verrenkungen machten, bis hin zu Purzelbäumen o. ä., und das Publikum ergötzte sich daran. Ähnlichkeiten mit Zirkusclowns sind durchaus denkbar.
Es heißt, dass die Pantomimen dabei auch sangen. Wohl kaum Lieder oder Arien, sondern mehr so auf die Weise, wie der Jovianer ohnehin in Singsang verfällt, wenn er etwas besonders lebhaft erzählt. Allerdings ist nicht anzunehmen, dass die Texte der „Gesänge“ im Aktstudio besonders sinnhaft waren – es ging wohl eher um die Kunst, Belangloses mit singender Stimme vorzutragen. Möglicherweise gingen die Texte nicht einmal über „la-la-la“ und „da-di-du“ hinaus.

Es gibt zwei Notizen von Labsalie von Altburg-Schmausenfeld[4] in der Asservatenstube[5], die belegen, dass auch sie als junge Frau zu den Besuchern des Aktstudios gehörte. Die eine lautet: „Rollerspiel mit Bovianern und eckigem Kasten, viel Tanz, grelle Farben, viel Wirrnis, viel Geschrei, viele Ohnmachten, nicht besonders lustig“.
Daraus können wir erstens ersehen, dass Belustigung erwartet wurde. Was bei der von Labsalie besuchten Darbietung wohl nicht so ganz gelungen war. Zweitens haben wir es hier wohl mit einem kombinierten Bovianer-Roller-Spiel zu tun. „Bovianer“ in einem Bovianerstück waren natürlich verkleidete Jovis und hauptsächlich dazu da, sich über die Bovis lustig zu machen. Mit „Geschrei“ meinte Labsalie evtl. missratenen Singsang. Was aber besonders auffällt, sind die „vielen Ohnmachten“.
Es ist keinesfalls anzunehmen, dass diese im Publikum stattfanden. Sondern vielmehr unter den Akteuren.
Zweierlei Vermutungen gibt es hierzu unter den Jovisophen[6]: Entweder die Rollerstücke bestanden ohnehin hauptsächlich aus – gespielten – Ohnmachten, weil damit angedeutet werden sollte, dass Konsumenten von Roller(!)sporen laufend ihr Dramengedächtnis[7] überforderten (was wiederum erheiternd, also lustig wäre), oder aber die Darsteller waren durch den Genuss ihrer Rollen(!)sporen überfordert, konnten ihren Text nicht an der richtigen Stelle einbringen und kippten um. Letzteres dürfte hinter Labsalies Bemerkung stecken und wird auch noch dadurch untermauert, dass in dieser Zeit die angeblich ohnmachtsverhütende Viechmilch[8] knapp geworden sein soll.

Labsalies andere Notiz lautet: „Kitzelspiele im Aktstudio. Selbst eingestiegen. Zum Kaputtlachen.“
Kitzelspiele waren wahrscheinlich nichts anderes als gegenseitige Massenkitzeleien, an denen das Publikum teilnehmen konnte (daher: „eingestiegen“), und es scheint, dass ihr Unterhaltungswert auch gehobenen Ansprüchen gerecht werden konnte.

Heute ist das Aktstudio unbenutzt. Nicht einmal auf einen neuen Verwendungszweck der Drehbühne ist bisher jemand gekommen.

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[1] ^ Rollersagen oder -romane waren Geschichten über eine romantisierte Vergangenheit der Jovianer im Zeitalter der Romantik[2].

[2] ^ Die „Romantik“ ist eine Zeitspanne in der jovianischen Geschichte (ca. 150 – ca. 330 nGU[9]), in der die – auf Sporen[10] gesprochenen – Rollersagen[1] sehr verbreitet waren.
Näheres s. Artikel Romantik in Band IV.

[3] ^ Ein Kommel ist sowas wie unser Computer oder Fernseher oder beides, mit noch ein paar weiteren Funktionen, aber ohne Speicher.
Näheres s. Artikel Kommeltechnik in Band III.

[4] ^ Labsalie von Altburg-Schmausenfeld[13]: Derzeitige Bewohnerin der Alten Burg und Hüterin der Asservatenstube[5], zusammen mit ihren Zwillingstöchtern Drea und Doria. Der Name Labsalie wird auf dem zweiten a betont, und das e am Ende wird ausgesprochen, also so: Labsálië.

[5] ^ Die Asservatenstube ist eine Sammlung von alten Skizzen, Notizen in Familienschrift[11] und „Antiquitäten“ in der Alten Burg[12], verwaltet von Mitgliedern der Familie von Altburg-Schmausenfeld[13] (s. Seite Die Asservatenstube in Band IV).

[6] ^ Jovisophen sind die Menschen, die sich eingehend mit der Jovisophie[14] befassen.

[7] ^ Das Dramengedächtnis ist der nicht-vergessliche Teil des Jovianer-Hirns. Gespeichert werden aber nur dramaturgisch aufbereitete Ereignisse, Erzählungen usw. Näheres hierzu s. Seite Gedächtnisformen in Artikel Seele und Verstand des Kapitels Jovianer in Band II.

[8] ^ Der Milch des Viechs[15] wird von manchen eine vorbeugende Wirkung gegen Ohnmachten zugeschrieben, was aber umstritten ist.
Näheres s. Seite Wirkung der Viechmilch in Artikel Viecher des Kapitels Andere Lebewesen in Band II.

[9] nGU = „nach Großem Umzug[16]“, die jovisophische[17] Kalenderrechnung gewissermaßen.

[10] Die Sporen der Bunten Berge[18] werden als Kommunikations- und Speichermedium genutzt.
Näheres hierzu s. Artikel Sprache, Schrift und Sporen in Band III, bzw. (Herkunft) Buntbergsporen in Artikel Buntberginsel in Band I.

[11] Die „Familienschrift“ ist die Schreibschrift derer von Altburg-Schmausenfeld[13], die einzige bekannte Schrift, die noch von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Näheres s. Seite Die Familienschrift in Band IV.

[12] Die „Alte Burg“ ist das Steingebäude auf dem Jupolis-Archipel[19], das noch von der Io[20] stammt und von Alp von Altburg[21] auf der Labsalinsel[22] neu aufgebaut wurde.
Näheres s. Seite Alte Burg in Artikel Labsalinsel in Band I.

[13] Familie von Altburg-Schmausenfeld: Die auf Alp von Altburg[21] und Hedi von Schmausenfeld[23] zurückgehende Familie, wohnhaft in der Alten Burg[12], mit eigener Schrift („Familienschrift“[11]); Hüter der Asservatenstube[5].

[14] Die Jovisophie ist die ehrwürdige Lehre von der jovianischen Zivilisation. Die Jovisophische Gesellschaft[24] (JoSoGes) vertritt diese Lehre, die sich bewusst nicht „Wissenschaft“ nennt, auf der Erde.

[15] Ein „Viech“ (auch „Ioviech“) ist bei den Jovianern nicht irgendein Tier, sondern ein bestimmtes, das so heißt.
Näheres s. Artikel Viecher in Band II.

[16] Als „Großer Umzug“ wird die Umsiedlung der Jovianer von der Io[20] auf den Jupiter bezeichnet.
Näheres s. Artikel Der Große Umzug in Band IV.

[17] „Jovisophisch“ = zur Jovisophie[14] gehörig, auf ihr beruhend. Die Jovisophie ist die Lehre von der jovianischen Zivilisation, also der Kultur der Jovianer.

[18] Bunte Berge: Das „Gebirge“ auf der Buntberginsel, das in Wirklichkeit gar keines ist.
Näheres s. Seite Bunte Berge in Artikel Buntberginsel in Band I.

[19] Der Jupolis-Archipel ist die Inselgruppe, innerhalb der sich die Stadt Jupolis befindet. Er ist das Thema von Band I.

[20] Die Io, oft auch Heimat-, seltener Rumpelmond genannt, ist der innerste der vier größten, sog. Galileischen Monde des Jupiters. Von hier stammen die Jovianer ursprünglich.

[21] Alp von Altburg, genannt Kapitän Alp: Leiter der Umsiedlung der Jovianer von der Io[20] auf den Jupiter (s. Artikel Artikel Der Große Umzug in Band IV), Begründer der Asservatenstube[5]

[22] Die Labsalinsel ist die Insel im Südost/GW[25] des Jupolis-Archipels[19].
Näheres s. Artikel Labsalinsel in Band I.

[23] Hedi von Schmausenfeld, zuvor von Schmauchenfels, zuvor von Fadland: zunächst Rosmars[26] Frau (s. Artikel Stadtchefzeit in Band IV), später Alps[21].

[24] Die Jovisophische Gesellschaft (JoSoGes) ist die Gemeinschaft der Menschen, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Menschheit, also die Erdbewohner, über die Existenz der Jovianer, also der Jupiterbewohner, aufzuklären.

[25] GW = Gegenwesten (s. Artikel Die sechs Himmelsrichtungen in Band III).

[26] Rosmar von Schmauchenfels: Erster und einziger Stadtchef von Jupolis (s. Artikel Stadtchefzeit in Band IV), damals noch Lebenspartner von Hedi[23].

 

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