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ROLLERSAGEN DER ROMANTIK:
Der falsche Würfel
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Engif zeigt Würfel

Engif präsentiert Rukuk einen Würfel    [G]

„Und du hast den Würfel dabei, tatsächlich?“, fragte Rukuk erregt.
„Gewiss“, antwortete Engif ruhig, „aber im Übrigen …“
„Zeig her“, unterbrach ihn Rukuk.
Engif zog einen der beiden Würfel heraus, von dem er leider nicht mehr wusste, ob es der richtige war oder der falsche, zeigte ihn Rukuk kurz und ließ ihn wieder verschwinden.
Rukuk rieb sich die Hände. „Der Kleinen geht es prächtiglich, wie du gleich ersehen wirst“, sagte er.
„Im Übrigen freilich“, setzte Engif seinen angefangenen Satz von vorhin erhobenen Hauptes fort, „bitte ich Euch, davon abzusehen, mich in Duzform anzusprechen, wenn unser Austausch fruchtbringend sein soll, werter Herr, denn ich bin Euch zumindest ebenbürtig.“

Dieses „zumindest ebenbürtig“ ist in sämtlichen Varianten der Erzählung enthalten, muss also wichtig sein. Die Vorstellung, dass nicht alle Iovi-/Jovianer gleich sein könnten, geistert also durch die jovianische Gesellschaft, und dass Ruhm und Ehre, oder sogar Charakterstärke o. ., nicht mit Ansehen – jedenfalls durch Würfelbesitz – aufzuwiegen sind, zeigt sich am deutlichsten darin, dass Engif nicht etwa hinzufügte: „… denn meine Würfelsammlung ist mindestens ebenso groß wie die Eure“. Nein, hier wurde darum gepokert, inwieweit der soziale Status des Erfüllers einer Erpresserforderung höher anzusiedeln sei als der des Erpressers. Und bei kleinen Gaunern kann mit sowas durchaus punkten, größere schöpfen ihre Erhabenheit aus der Zahl und der Verlässlichkeit ihrer Untergauner, doch Rukuk hörte bereits an den anwachsenden Tumulten draußen, dass sein Stern am Sinken war.

„Nun gut“, schnauzte Rukuk etwas kleinlaut, „begebt Euch nach oben und überzeugt Euch selbst davon, dass das Fräulein gesund und munter ist und unverletzt. Die Treppe ist montiert.“
„Mich hiervon zu überzeugen,“, sagte Engif, „obliegt nicht meiner Wenigkeit selbst, sondern dem gefangenen Fräulein, werter Herr. Es ist daher erforderlich, dass Sie mich mit ihr in Zweisamkeit verharren lassen, bis ich Euch ein Zeichen gebe, dass meine untersuchende Befragung abgeschlossen ist.“
„Meinetwegen“, knirschte Rukuk, schließlich herrschte die dazu passende Phase.
Engif stieg also nach oben in die Kuppelkammer, und Bine war außer sich vor Freude, ihn zu sehen.

Engif bei Bine

Engif trifft bei Bine ein    [G]

In einer (nur einer!) Sagenversion küssten sie sich jetzt ausgiebig und leidenschaftlich – ein Vorgang, der bei Iovi- und Jovianern für unsere Augen ziemlich eigenartig aussieht, aber das wäre umgekehrt sicherlich genauso.
Auf jeden Fall begann Bine gleich anschließend, Engif mit Fragen zu löchern, doch er mahnte sie zu Stille und Geduld.
„Hört, teures Fräulein“, flüsterte er ihr zu, „ich habe zwei Würfel bei mir, einen richtigen und einen falschen, und ich vergaß, welcher welcher ist. Ihr müsst mir helfen, dies herauszufinden, und zwar in aller Eile!“
„Das ist einfach, wackerer Engif“, sagte Bine, „haltet einen davon mir ans Ohr und sagt den Zauberspruch zum Erscheinen Jupiters, dann wisst Ihr zuverlässig, ob derjenige, den Ihr in Händen haltet, der wirksame ist oder der unwirksame. Die beiden Formeln wisst Ihr noch?“
Die wusste er noch. Jeder, der einmal die Wirkung des Würfels erlebt hatte, kannte sie. Das kommt daher, dass das Erscheinen des Jupiters über der Rückseite des Mondes ein derart eindrucksvolles Erlebnis war, dass es nicht im Normalgedächtnis, sondern im Dramengedächtnis[1] abgespeichert wurde, und was darin einmal sitzt, vergisst man nie mehr wieder. Engif war zwar kein Phantänzer, hatte sich aber schon mehrmals den Planeten an den Himmel zaubern lassen – und wieder wegzaubern, so dass ihm beide Formeln vertraut waren.

„Jupiter, sei hier!“, sagte Engif also über den ersten Würfel hinweg leise in Bines Ohr, und einmal war es gleich der richtige, ein andermal zunächst der falsche, wieder je nach Erzählversion, aber das ist auch völlig unerheblich, denn am Ende hatte er beidesmal dafür gesorgt, dass Bine plötzlich den wahrhaftigen Jupiter sah. „Dieser ist es“, flüsterte sie. So hatte Engif also den echten Zauberwürfel in der Hand, als Rukuk ungerufen heraufgeschnellt kam, weil ihm die Sache da oben allmählich zu lange dauerte. Und Engif hielt den Würfel ein zweites Mal an Bines Ohr und sprach denselben Spruch nochmals (das bewirkte zwar nichts, konnte aber auch nichts schaden), nur diesmal laut, um sich anschließend an Rukuk zu wenden und zu sagen: „Seht, ich habe Fräulein von Wolkenburg soeben mittels des Würfels den Mehrfach Gegürteten[2] ans Firmament zurückgebracht, was zum Erweise dienen möge, dass ich den echten Zauberwürfel mit mir führe, worauf Ihr zweifellos besteht.“
„Das will ich meinen!“, sagte Rukuk.
Egal, ob er erst jetzt auf den Gedanken kam, dass man ihn vielleicht hätte übers Ohr hauen wollen oder ob er den Nachweis der Echtheit sowieso gefordert hätte, jetzt jedenfalls fand Rukuk großes Interesse an dieser Demonstration. „So soll die junge Dame denn kundtun, was sie sieht“, sagte er.

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[1] ^ Das Dramengedächtnis ist der nicht-vergessliche Teil des Jovianer-Hirns. Gespeichert werden aber nur dramaturgisch aufbereitete Ereignisse, Erzählungen usw. Näheres hierzu s. Seite Gedächtnisformen in Artikel Seele und Verstand des Kapitels Jovianer in Band II.

[2] ^ Einer der poetischen Beinamen des Jupiters in den Rollersagen.