Band IV

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Rekonstruktion der Historie

Es gibt zweierlei, was wir sorgfältig unterscheiden müssen: das, was wir als „historisch“ einstufen und das, was der Jovianer als „geschichtlich“ betrachten würde, denn Letzteres hat mehr mit Geschichten zu tun als mit Geschichte. Die Erinnerung des Jovianers nährt sich ja v. a. aus seinem Dramengedächtnis[1], und was darin festgehalten ist, fühlt sich keinen Tatsachen verpflichtet.
Wir könnten also einen Jovi fragen, was er von der Epoche der Romantik[2] wisse oder von der Allzeit[3], und er könnte uns mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit einiges dazu erzählen, auch wenn er diese Zeit selbst nicht erlebt hat. Aber es wäre keinesfalls sowas wie: „Die Romantik war eine über mehrere Triebphasen verlaufende Epoche von ca. 150 bis ca. 320 oder 330 nGU[4] …“, oder: „Die Allzeit, bestehend aus drei sogenannten Etappen, nahm etwa 60-70 Jahre des 3. Jahrhunderts ein …“ – nein, dieser Jovi würde augenblicklich eine komplette Rollersage[5] zum Besten geben oder eine ungefähre Beschreibung der Erdvianer[6] und deren Lebensweise.
Das wäre zwar auch nicht ganz uninteressant (weshalb derlei Geschichten in Band V ihre Würdigung finden), aber nun mal ganz und gar nicht das, was wir unter Geschichte verstehen.

Allein mit den „Erinnerungen“ der Jovianer wären wir also nicht weit gekommen bei unserem Versuch, die Vergangenheit des Jovianervolks kennenzulernen. Da leistet uns die Asservatenstube der Burgdamen von Altburg-Schmausenfeld wesentlich bessere Dienste. Aber auch die kostbaren Stücke dieser Sammlung sind im Grunde nur ein Sammelsurium, und es steht uns nicht zu, die Damen bitten zu lassen, die Informationen, die ihre Stube birgt, auch noch zeitlich zu sortieren. Das müssen wir schon selber machen. Allein schon deshalb, weil wir nicht einmal unseren Gewährsleuten in Jupolis klarmachen könnten, wie wir das meinen.
Und schon gar nicht dürften wir die Burgdamen damit schockieren, dass dieser Wunsch von einem anderen Planeten käme. Es ist schon verwunderlich genug, dass unsere Kontaktpersonen es aushalten, tatsächlich mit Außerjupischen[7] in Verbindung zu stehen. Sie sind übrigens – mit Unterbrechungen (Knirschphasen) – schon seit mehreren Jahren sehr mitteilsam und auskunftsfreudig, aber erstaunlicherweise alles andere als neugierig, was uns betrifft. Das ist uns aber nicht unrecht, denn wir sind uns nicht sicher, ob es den Jovianern guttun würde, von den tatsächlichen Zuständen auf der Erde zu erfahren. Doch das nur nebenbei.

Um also die Geschichte der Jovianer in eine Form zu bringen, die uns einigermaßen historisch erscheint, müssen wir sie mehr oder weniger „rekonstruieren“. Das heißt, wir müssen die uns dankenswerterweise zugespielten Infos so ordnen, dass sie einen kontinuierlichen Ablauf ergeben. Ob der dann immer im Detail stimmt, sei dahingestellt. Anspruch auf Präzision kann unsere Rekonstruktion jedenfalls nicht erheben. Zum Beispiel wäre es ein zweifelhaftes Unterfangen, die Ereignisse mit exakten Daten wie etwa Jahreszahlen zu versehen. Das wäre unseriös, denn sie würden in den meisten Fällen über die Qualität grober Schätzungen nicht hinauskommen. Aber die Reihenfolge der Begebenheiten dürfte so ungefähr stimmen, und die Zeiteinteilung in Jahrzehnten auch einigermaßen.

Nur, vollständig ist unsere Historie mit Sicherheit nicht.
Da gibt es schon noch das eine oder andere Platt[8] bzw. Utensil unter den Asservaten, das sich bisher nicht einordnen lässt. Aber vielleicht tun sich ja in Zukunft noch ein paar Zusammenhänge auf.

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[1] ^ Das Dramengedächtnis ist der nicht-vergessliche Teil des Jovianer-Hirns. Gespeichert werden aber nur dramaturgisch aufbereitete Ereignisse, Erzählungen usw. Näheres hierzu s. Seite Gedächtnisformen in Artikel Seele und Verstand des Kapitels Jovianer in Band II.

[2] ^ Die „Romantik“ ist eine Zeitspanne in der jovianischen Geschichte (ca. 150 – ca. 330 nGU[4]), in der die – auf Sporen[9] gesprochenen – Rollersagen[5] sehr verbreitet waren.
Näheres s. Artikel Romantik hier in Band IV.

[3] ^ Die Allzeit war eine aus drei ineinandergreifenden Teil-Triebphasen[10] bestehende Epoche, in der sich die Jovianer mit dem Weltall, Erdphantasien und kulturellen Experimenten befassten. Näheres s. Artikel Allzeit hier in Band IV.

[4] ^ nGU = „nach Großem Umzug[11]“, die jovisophische[12] Kalenderrechnung gewissermaßen.

[5] ^ Rollersagen oder -romane waren Geschichten über eine romantisierte Vergangenheit der Jovianer im Zeitalter der Romantik[2].

[6] ^ (Ober-, Mittel-, Unter-)Erdvianer: „Erdbewohner“ nach jovianischer Vorstellung. Nicht: Menschen! Näheres s. Artikel Dreierlei Erdvianer in Kapitel Erdphantasien der Allzeit in Band V.

[7] ^ „ionisch“ und „jupisch“ entsprechen unserem „irdisch“, „außerionisch“ und „außerjupisch“ unserem „außerirdisch“

[8] ^ Ein Platt (Mehrzahl: Plätter, Verkleinerungsform: Plättchen) ist eine dünne Platte aus Halbhartjomit[13] (identisch mit Halbweichjomit).

[9] Die Sporen der Bunten Berge[14] werden als Kommunikations- und Speichermedium genutzt.
Näheres hierzu s. Artikel Sprache, Schrift und Sporen in Band III, bzw. (Herkunft) Buntbergsporen in Artikel Buntberginsel in Band I.

[10] Trieb- und Knirschphasen: Die kollektiven Stimmungsschwankungen der Jovianer.
Näheres s. Artikel Trieb- und Knirschphasen in Band II.

[11] Als „Großer Umzug“ wird die Umsiedlung der Jovianer von der Io[15] auf den Jupiter bezeichnet.
Näheres s. Artikel Der Große Umzug hier in Band IV.

[12] „Jovisophisch“ = zur Jovisophie gehörig, auf ihr beruhend. Die Jovisophie ist die Lehre von der jovianischen Zivilisation, also der Kultur der Jovianer.

[13] Jomit (ursprüngl.: Iomit) ist der Universalwerkstoff der Jovianer, aus dem so gut wie alles hergestellt werden kann.
Mehr dazu in Artikel Industrie in Band I.

[14] Bunte Berge: Das „Gebirge“ auf der Buntberginsel, das in Wirklichkeit gar keines ist.
Näheres s. Seite Bunte Berge in Artikel Buntberginsel in Band I.

[15] Die Io, oft auch Heimat-, seltener Rumpelmond genannt, ist der innerste der vier größten, sog. Galileischen Monde des Jupiters. Von hier stammen die Jovianer ursprünglich.